Die Last

Latha war die vielen Stufen hinuntergestiegen und stand bereits auf der Strasse. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie ihre Monatskarte nicht bei sich hatte. Wäre sie schon im Bus gewesen, hätte sie einen Fahrschein kaufen müssen. Da sie aber noch vor dem Gebäude stand, in dem sich ihre Wohnung befand, dachte sie, sie sollte lieber zurückgehen und ihre Monatskarte holen. Die andere Möglichkeit wäre natürlich gewesen, einfach weiterzugehen, in den Bus einzusteigen, einen Fahrschein für fünfundsiebzig paise zu kaufen und erleichtert zu sagen:

Oder sollte sie von der Strasse aus, ohne ganz laut zu schreien, jemand von ihrer Familie herunterrufen. Die Chance, dass ihre schwache Stumme bis zum dritten Stockwerk, wo ihre Familie wohnte, vordringen würde, war gering.

Latha stieg also die Treppe wieder hinauf, Stufe für Stufe. Das waren bei drei Stockwerken und vierzehn Stufen pro Stockwerk:

vierzehn mal drei, also vierundfünfzig Stufen. Vierundfünfzig! Sie zählte zwei, vier, sechs..sechs..

Latha war ausser Atem.

Sie hatte gerade erst gefrühstückt und nun musste sie innerhalb einer Viertel Stunde dreimal diese Treppe auf und ab.

Ihre Bluse war bereits an mehreren Stellen durchnässt.

Würden derartige Notübungen ihr denn auch helfen, etwas an Gewicht zu verlieren?

Jedes Mal, wenn eine Familie ins Haus kam, um wie das so üblich war, Latha als künftige Braut zu mustern, hatte die junge Frau eine schwere Krise zu überstehen.

Die Leute kamen immer ausgerüstet mit zahlreichen Vorinformationen und sorgfältig gesammelten Details über sie, und alle schienen recht wohlwollend und zufrieden.

Sobald aber Latha leibhaftig vor ihnen stand, änderte sich ihre Haltung mit einem Schlag.

Latha hatte mittlerweile die Kunst gemeistert, den Sari in zahlreichen Farbkombinationen, in verschiedenen Mustern und Variationen zu tragen: Dünne Streifen, dicke Streifen, vertikale Streifen, horizontale Streifen, breiter Saum, schmaler Saum, helle Farben, dunkle Farben, weiss, schwarz - aber nichts half.

Es hatte sich herumgesprochen, dass sie recht korpulent sei. Und auch ihre engeren Bekannten, nannten sie, wenn sie von ihr sprachen, ganz einfach 'die Dicke'. Das hatte sie schon lange geahnt.

Latha stand vor ihrer Wohnung im dritten Stock und klingelte. Die Mutter machte die Tür auf, Latha trat ein, holte ihre Monatskarte,

und ging wieder die Treppe hinunter, ohne, dass ihre Mutter sagte, was sie es sonst immer tat: "Bitte schliess die Tür richtig zu!" Eigentlich musste sie sich gerade beim Hinuntergehen besonders in Acht nehmen.

Ihre Sandalen gingen oft kaputt dabei. Leute wie sie, die korpulent waren, mussten nicht nur oft ihre Sandalen wechseln, sondern auch ihre Unterröcke und Saris. Immer wieder gerieten diese unter die Füsse und waren so im Nu zerrissen.

Ein Sari war zweckmässig nur für schlanke Frauen oder für solche dicken Frauen, die es sich leisten konnten, im Sari sich kaum zu bewegen.

Für verschiedenartige Typen Männern gibt es verschiedene Männerbekleidung. Männer können an ihrem Körper alles verdecken, wie sie es wollen, aber Frauen?

Ein anderes bedrückendes Erlebnis war, wenn sie in der Spitzenverkehrszeit mit dem öffentlichen Bus fahren musste. Wenn sie einen Platz fand, konnte sie nicht anders, als auch von dem benachbarten Sitzplatz einen Teil zu beanspruchen.

Nicht alle nahmen das widerstandslos hin.

In indischen Bussen hatte man sowieso den Eindruck, als ob sie nur für solche Fahrgäste gebaut wären, die unter Hungersnot leiden.

Und irgendwie erinnerten diese Busse Latha auch an dicke Frauen.

Jeder Bus war im Grunde genommen wie eine böse Schwiegermutter, war dick, atmete schwer und machte den Leuten Probleme.

In solch einem Bus stand Latha an diesem Morgen neben etwa einhundert Fahrgästen.

Es war so ein Gedränge, dass auch Leute, die schlanker waren als sie, sich zerquetscht fühlten.

Bekanntlich hat jedes Ding eine gewisse Länge, eine gewisse Breite und eine gewisse Höhe, dass man jedes Ding aber beliebig zusammenquetschen kann, gerade das wurde tagtäglich in den überfüllten Bussen bewiesen.

Warum ist das körperliche Aussehen so wichtig gerade vor der Heirat? Es ist doch so, dass dreiviertel aller Frauen sich nicht mal ihre Haare ordentlich kämmen, wenn sie erst einmal verheiratet sind, ganz zu schweigen von der zunehmenden Vernachlässigung ihrer Körperpflege.

Das Gehalt ihrer Männer nimmt keineswegs zu, aber umso mehr das Gewicht der Frauen! Wieso?

Das liegt sicher an der weit verbreiteten Haltung: "Keiner kann mir nun mehr etwas anhaben!" Wären diese Männer denn auch bereit gewesen, die Frauen zu heiraten, wenn sie vor der Hochzeit so ausgesehen hätten, wie sie jetzt aussehen?

Man könnte denken, dass die Frauen das genau wissen und gerade deshalb sich jetzt an den Männern rächen!

Latha freute sich auf einmal.

Vielleicht war es ihr nicht möglich, für das Unrecht, das ihr von den Männern angetan wurde, selbst Rache zu nehmen.

Aber immerhin ihr Geschlecht rächte sich ständig an dem männlichen Geschlecht nach dem Motto: "lhr wollt uns nur dann heiraten, wenn wir schön sind? Schon gut. Aber wartet nur! Ihr werdet sehen, wie wir uns revanchieren, wenn wir einmal mit euch verheiratet sind.“

So tobt ein ständiger Kampf zwischen den beiden Geschlechtern, wobei die Männer versuchen, die Frauen schlecht zu machen und die Frauen die Männer. Ist das immer so gewesen von Anbeginn der Schöpfung? Oder hat es sich erst später entwickelt, als der Mensch sich Institutionen wie Familie und Ehe schuf? Kann man sich vorstellen, dass mit dem Tag, an dem die Ehe als Institution nicht mehr als heilig und wichtig betrachtet wird, der Kampf der Geschlechter enden wird?

Latha schaute sich die Leute an, die um sie herum im Bus sassen oder standen. Sie überlegte: Wie viele von ihnen würden, wenn man sie fragte, ob sie bereit wären, ohne Trauschein mit der einen oder anderen Person hier zusammen zu leben, solch ein Angebot annehmen? Die meisten würden wahrscheinlich solch eine Frage nur als schlechten Witz abtun. Würde man sie aber zu einer Antwort zwingen, gäbe es sicher viel Ärger und Not. Als einzige, die auf ein derartiges Angebot sofort und freudig eingehen würde, könnte ich mir eine noch nicht verheiratete dicke Frau vorstellen.

Latha fragte sich verwundert: "Was ist das eigentlich, Schönheit?" Sie hatte während ihrer Schulzeit und während der Studienjahre am College und an der Universitāt fünfzehn bis sechzehn Jahre lang Hunderte von Büchern gelesen. Sie konnte sich an viele von ihnen gar nicht mehr erinnern. Woran man sich noch in der Prüfung erinnern konnte, dafür gab es gute Noten. Aber sobald die Prüfung vorbei war, war auch das Wissen weg, weil es nicht mehr wichtig war. Die Tafel im Kopf war wieder total leer. Genau so ist es auch mit der Schönheit. Ist sie auch zweckgebunden? Braucht man sie nur bis zur Heirat? Nach der Heirat konnte man sie ruhig wegwerfen, nicht wahr?

Latha war sich nicht sicher, wie viele von denen, die hier um sie herum waren, man als schön bezeichnen könnte. In dem Gedränge schienen sie alle nicht in der Lage, ihre Schönheit zu bewahren. Wie viele von ihnen dürften wohl schon verheiratet sein? Einmal angenommen, die Hälfte von ihnen wäre bereits verheiratet und diese Frauen brauchten deshalb nicht mehr auf ihre Schönheit zu achten, so musste doch immerhin die ganze andere Hälfte sich bemühen, schön auszusehen, bis sie heiraten konnten oder durften? Oder etwa nicht?

Wie auch immer, Familien kommen nach wie vor, um sich eine Frau als Braut anzusehen, auch wenn sie beleibt sein sollte. Wie aber wäre es, wenn ich einmal sagen könnte: "Dieser Mann gefällt mir nicht.", anstatt von ihm abgelehnt zu werden? Wieso eigentlich habe ich niemals so etwas gesagt, obwohl allerlei Männer, dunkelhäutige, kleingebaute, glatzköpfige, schielende und was noch für welche gekommen waren und mich dann doch nicht akzeptieren wollten? Warum war das so? Wenn ich eine bessere Arbeitsstelle gehabt hätte bei einer Bank oder einer ausländischen Firma mit einem Monatsgehalt von eintausendfünfhundert Rupien und mir ein Make-up mit den teuersten Kosmetika hätte leisten können, dann würde man mich sicher nicht mehr als dick empfinden.

Meine Marwadi-Freundin Radha war ja auch vollschlank. Eines Tages fuhr sie nach Pune zu einer Schönheitsklinik und kam nach einem Monat abgemagert zurück. Jetzt, vor einem Monat wurde ihre Hochzeit gefeiert. Wie üblich kam der Bräutigam auf einem Pferd geritten. Es gab zwei Musikbands, einen grossen Empfang und ein tolles Essen. Nach einem Monat aber war Radha wieder in ihrer Originalform, so dick wie je zuvor. Man kann sich also doch an den Männern rächen. Und man solllte es auch tun, genau auf diese Art und Weise!

Der Bus hielt an. Es war die Endhaltestelle. Latha stieg mit den anderen Fahrgästen aus. Hunderte von Menschen strömten in das Verwaltungsgebäude der Landesregierung. In der Mittagspause ging Latha in die Kantine und ass. Sie fasste den Entschluss, niemals im Leben abnehmen zu wollen. Sie fing an, mit grosser Freude darüber zu phantasieren, wie der Gesichtsausdruck des Mannes sein würde, der als nächster Heiratswilliger zu ihr kommen würde, um sie als Braut zu besichtigen, und dem sie klipp und klar ins Gesicht sagen würde: "Sie gefallen mir nicht! Verschwinden Sie!"

Wir danken der Familie von Ashokamitran für die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Kurzgeschichte - Die Last. Prof. Dr. Ganeshan, dem Übersetzer danken wir für seine Genehmigung auch.