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Als Ende der Woche der Schriftsteller Martin Walser starb, zeigten ihn die Bilder zu den Nachrufen oft am Ufer des Bodensees, als knorrigen alten Mann mit Hut, verwachsen mit seiner Herkunftswelt. Wenige Wochen zuvor hatte in Berlin eine Gedenkveranstaltung für den Ende November 2022 verstorbenen Hans Magnus Enzensberger stattgefunden, der 93 Jahre alt geworden war. Nichts wäre leichter, als die beiden in ein Kontrastbild einzuzeichnen

Auf der einen Seite der Kosmopolit Enzensberger, der das Deutschsein mit lässiger Geste ausschlägt, in die Nachkriegsgesellschaft die Frischluft der vom NS-Staat verbannten internationalen ästhetischen Moderne einfahren lässt und in seinen Essays demonstriert, wozu kühle, respektlose Intelligenz imstande ist.

Auf der anderen Seite Martin Walser, der mit seinen Figuren die Neigung zu Selbstzweifel und die Unkontrollierbarkeit der Gefühle teilt, der mit seinem Deutschsein hadert, es aber nie zur Disposition stellt und gegen die deutsche Teilung rebelliert, als sich die Mehrheit der Intellektuellen mit ihr abgefunden hat.

Aber dieses Kontrastbild unterschlägt, dass Enzensberger, wie er im Alter zunehmend erkennen ließ, die Bindung an seine deutsche Herkunftswelt und Herkunftsfamilie nie aufgab und Walser bereits in den Fünfzigerjahren als Reporter für den Süddeutschen Rundfunk Reisen nach Italien, England, Frankreich, Polen und in die CSSR unternahm, später Dozenturen an Universitäten in den Vereinigten Staaten innehatte und mit „Brandung“ einen quasi amerikanischen Roman in sein Werk einfügte.

Vor allem aber steht Walser wie sein Generationsgefährte Enzensberger für den Take-off des modernen Literaturbetriebs seit den späten Fünfzigerjahren. Für beide fand Literatur nicht lediglich zwischen Buchdeckeln statt, sondern war ein öffentliches Medium, das Geltung in der Gesamtgesellschaft beanspruchen konnte.

Beide hatten großen Anteil am Brückenschlag zwischen deutscher Gegenwartsliteratur und öffentlich-rechtlichem Rundfunk, beide sorgten als Mitglieder der „Gruppe 47“ für deren öffentliche Ausstrahlung.

Beide waren Autoren mit wachem Medienbewusstsein und Networker. Enzensberger entwickelte Medientheorien; Walser, der nicht nur Romancier, sondern auch Theaterautor war, wurde zu einem Virtuosen der physischen Bühnenpräsenz.

Beide waren deutlich älter als der Kern der 68er-Generation, beide trugen bei zur medialen Infrastruktur und zu den intellektuellen Ressourcen, auf welche die Jüngeren zurückgreifen konnten.

Walser beobachtete 1964 den Frankfurter Auschwitzprozess, sein Essay, der 1965 in Enzensbergers Kursbuch erschien, enthielt den Satz: „Was Auschwitz war, wissen nur die ‚Häftlinge‘.“

Als Walser sich Jahrzehnte später in seiner Paulskirchenrede 1998 mit der Warnung vor einer Ritualisierung und Entleerung des Gedenkens an Auschwitz nicht begnügte, sondern ebenso vage wie unbedacht die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ argwöhnte, provozierte er den Protest von Ignatz Bubis, des Vorsitzenden im Zentralrat der Juden in Deutschland.

Walser, Enzensberger und Grass, aber auch Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Thomas Bernhard und andere wurden auch deshalb zu herausgehobenen Figuren, weil das mediale Dreieck von Buchverlagen, Zeitungen und Zeitschriften und Rundfunk zu einem Gewicht der Literatur in der allgemeinen Öffentlichkeit beitrug. Ihre in Gestus und Gehalt unterschiedlichen Interventionen konnten Walser, Enzensberger und Grass auf diesem Sockel noch im wiedervereinigten Deutschland bis ins neue Jahrtausend hinein öffentlichkeitswirksam fortsetzen.

Nachfolgende Autorengenerationen können in der aktuellen Mediensituation mit einer herausgehobenen Rolle der Literatur in der Öffentlichkeit nicht mehr rechnen. Grass, Enzensberger oder Walser hinterlassen keine Planstellen. Zugleich hat sich seit den Zeiten der „Gruppe 47“ das Profil der Gegenwartsliteratur deutlich verändert. Alle Debattenbegriffe von einst – die Heimat, das Vaterland, die Muttersprache – sind in einer Updatephase.

Im Jahr 2015, als Günter Grass starb, erhielt in der Frankfurter Paulskirche der deutsch-iranische Orientalist und Autor Navid Kermani den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Wenige Wochen nach dem Tod Enzensbergers wurde die Schauspielerin und Autorin Emine Sevgi Özdamar mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Wenige Monate vor Walsers Tod gewann der deutsche Autor Dinçer Güçyeter den Preis der Leipziger Buchmesse. Das sind zufällige Koinzidenzen.

Aber sie sind nur möglich, weil die aktuelle deutsche Gegenwartsliteratur sehr viel erkennbarer die Literatur einer Einwanderungsgesellschaft ist als jene Gegenwartsliteratur, die Grass, Enzensberger oder Walser einmal repräsentierten.

Martin Walsers Tod erinnert daran, wie seine Generation die Debatten in Deutschland prägte. Und nun? Treten jüngere Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlicher Herkünfte auf.